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»Ich muss nicht alles wissen, aber vieles wissen wollen«

Interview mit Thilo Kößler, Leiter der Abteilung »Hintergrund« beim Deutschlandfunk

Von Hendrik Muth
 

Wie werde ich politischer Redakteur beim Radio?
Erstens: Ich interessiere mich für die komplexen Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung. Dann interessiere ich mich für Politik.
Zweitens: Ich muss nicht alles wissen, aber vieles wissen wollen. Deshalb ist ein Studium das Richtige für mich. Und ich bereite mich schon einmal darauf vor, für den Rest meines Lebens Fragen zu stellen und nach einigermaßen schlüssigen Antworten zu suchen.
Drittens: Ich schreibe gerne, interessiere mich für andere Menschen und Meinungen, und komme gut damit zurecht, dass sich beide von mir unterscheiden.
Viertens: Den Rest kann man lernen. Am besten in einem Volontariat.

Volontariate sind also wichtig. Was zählen im Vergleich dazu Hospitanzen und Praktika?
Viel weniger. Es sei denn, sie sind wirklich mit praktischen Erfahrungen verbunden, die auch zum Tragen kommen.

Sollte man zuerst allgemeine Erfahrungen beim Radio sammeln, bevor man sich spezialisiert?
Die meisten guten Radio-Journalisten haben als Reporter angefangen und alles mitgenommen, was ihnen das Medium zu bieten hat. Und siehe da: Es ist etwas aus ihnen geworden. Zum Beispiel ein guter Redakteur im »Hintergrund« .

Wie steht es mit der Durchlässigkeit zwischen den verschiedenen Medien?
Zwischen den elektronischen und den klassischen Printmedien ist sie nicht sehr ausgeprägt. Die Zeitungs-Leute meinen, Rundfunk-Journalisten könnten nicht schreiben, und die Radio-Leute glauben, die Zeitungs-Kollegen könnten nicht sprechen. Beide überzeugen sich oft genug vom Gegenteil. Das kann man immer wieder in der Zeitung lesen oder im Radio hören.

Seit Längerem ist eine Entwicklung zu beobachten, die mit dem Schlagwort der »Entwortung des Radios« zusammengefasst wird. Wie sehen Sie die Zukunft des Radios?
Allen modernen Übertragungstechniken zum Trotz: Radio ist immer noch das schnellste Medium und allemal informativer als das Laufband unter irgendeiner TV-Werbung. Und doch verkommt das Radio immer mehr zum Unterhaltungs- und Nebenbei-Geplätscher-Medium mit Gewinnspiel-Garantie. Es sei denn, es geht um die so genannten gehobenen Programme, wie zum Beispiel Deutschlandfunk oder Deutschlandradio Kultur. Die sind mitunter unerträglich, wenn man sie nebenbei hört. Beim intensiven Zuhören sind sie aber ziemlich ertragreich.

Können interessante Politiker-Persönlichkeiten oder drängende politische Probleme dazu führen, dass sich die Menschen wieder mehr für Politik interessieren?
Natürlich wächst die Attraktivität von Politik mit der Attraktivität der Politiker. Barack Obama ist dafür nur ein besonders gutes Beispiel. Aber Politik ist kein Festival und der amerikanische Präsident kein Popstar. Die politische Agenda wird sich durch ihn nicht verändern. Die Aufgaben des politischen Journalismus bleiben dieselben: Zusammenhänge erklären, Hintergründe erläutern, Entscheidungen bewerten. Gala-Dinner war gestern, heute ist wieder Schwarzbrot. Doch der Appetit kommt bekanntlich beim Essen.

Die Sendung »Hintergrund« behandelt täglich ein neues politisches Thema. Welche Kriterien sind es, die entscheiden, ob es ein Thema in die Sendung schafft?
Erstens: Die Relevanz des Themas. Ist es wirklich wichtig?
Zweitens: Die Plausibilität des Zeitpunkts. Steht die Sendung heute richtig? Oder hätte es eigentlich ein anderes Thema sein müssen?

Eignen sich bestimmte Themen besonders für eine bestimmte journalistische Darstellungsform?
Die Darstellungsformen hängen weniger vom Thema als von den Erwartungen ab, die ich mit ihnen verbinde. Ein Interview fragt nach Haltungen und Positionen und treibt den politischen Diskurs voran. Ein Bericht bewegt sich auf der Ereignis- und Entscheidungsebene: Er erläutert Vorgeschichte, Kontext und den Stand der Dinge. Reportage oder Mini-Feature bewegen sich auf der Erlebnis- und Wirkungsebene: Sie vermitteln Atmosphäre, Stimmen und Stimmungen – authentisch und nachvollziehbar. Der Kommentar ordnet ein, bewertet und sorgt für Orientierung. Alle zusammengenommen sind sie ein Beitrag zur Erklärung der Welt.

Welche Themen stoßen bei Ihren Zuhörern auf die größte Resonanz in Form von Zuschriften, E-Mails oder Anrufen?
Die Themen, die besonders kontrovers diskutiert werden und deshalb ein besonders großes Informationsbedürfnis auslösen. Hinter manchem Protest oder Einwand steckt der Wunsch nach Erklärung und besserem Verständnis. Wenn er nicht glaubwürdig und seriös gestillt wird, ist das ziemlich enttäuschend.

Welche Rolle spielt das Online-Angebot beim Deutschlandfunk?
Das Online-Angebot ist wichtig. Die Beiträge, die im Radio liefen, sind auf diese Weise nachzulesen. Schwarz auf Weiß, unmissverständlich und ohne Nebengeräusche. Immer wichtiger wird aber das Podcast-Angebot. Es bedeutet Radio-Hören ohne Bindung an Sendezeiten: Die 12-Uhr-Nachrichten um Viertel vor eins. Den »Hintergrund« vor dem Einschlafen. Den Mitternachtskrimi vormittags auf dem Weg zum Kundengespräch. Radio im Auto, im Zug, im Supermarkt oder im Fahrstuhl: den Knopf im Ohr, die Welt im Kopf.
 
 


»Hintergrund«

Der Nachfolger der Deutschlandfunk-Sendungen »Hintergrund Politik« und »Hintergrund-Wirtschaft« befasst sich seit September 2007 mit der Analyse aktueller und grundsätzlicher Themen aus In- und Ausland. Der »gebaute Beitrag« mit verschiedenen O-Tönen ist als journalistische Form die Regel, möglich sind aber auch: Reportagen, Mini-Features oder Interviews. Die Abteilung »Hintergrund« umfasst zwölf festangestellte Mitarbeiter. Die Zahl der Autoren, die als Freie an der Sendung mitwirken, geht in die Hunderte. Gesendet wird täglich zwischen 18.40 und 19.00 Uhr im Deutschlandfunk.