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Die Überschrift

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Kurt Tucholsky: Die Überschrift

Kommentiert von Ralf Freitag
 

Das haben wir eigentlich aus Amerika gelernt, nicht auf die Suppe, sondern auf den Topf zu gucken. Früher fragte man, wie eine Medizin wirke, heute, wie sie verpackt sei.
Ein Königreich für einen Titel.

Ralf Freitag, Chefredakteur des Delmenhorster Kreisblattes: Das Auge isst mit. Ein Drei-Gänge-Menü serviert man nicht auf einem Papp- oder Plastik-Service. So verhält es sich auch im Journalismus. Guten Journalismus wird man heute ohne Verpackung kaum noch wahrnehmen.

Die Zeitungen habens verschuldet, deren geschickteste Angestellte sich den Kopf zerbrechen müssen, um einen Titel, ein lockendes, fettgedrucktes Wort zu erfinden ... Es ist nicht zu tadeln, wenn eine gute typographische Druckanordnung die Orientierung des Lesers erleichtert, – aber das geschieht bei uns auf Kosten des Inhalts. Die Überschrift macht den Kohl fett, der sonst so fad wäre, dass ihn niemand schlucken möchte.

Ralf Freitag: Man könnte vermuten, dass sich im Zeichen verlegerischer Sparwut, allgemeinen Kostenzwangs und zunehmendem Leserschwund Tucholskys Grund zur Klage noch verstärkt hätte. Zum Glück aber gibt es mehr gut gemachte Zeitungen, als die Diskussion in der Medienbranche manchmal erahnen lässt. Die Zeiten jedenfalls, in denen sich Chefredakteure allein durch neue Federstriche im Layout oder neue politische Schwerpunkte definierten, sind Gott sei dank vorbei.

Wenn die Überschrift noch den Extrakt der Nachricht, des Artikels enthielte: Keine Spur! Anreizen soll sie, und die Folge ist, dass der ewig überhungrige Leser die Kaviarschicht durchbeißt, auf den pappigen Teig stößt und dann das Ganze überdrüssig wegwirft. So werden viele guten Dinge diskreditiert: nur durch die Überschrift. Es gibt gerade in Berlin Zeitungen, die es darin zu einer beängstigenden Fertigkeit gebracht haben. Es kann kommen, was da will: eine Überschrift muß es haben die den Leser vor den Kopf stößt. Wie? „Der Glaszauber“? – Und nachher ist ein Flaschenfabrikant der allerhand Triviales über sein Geschäft erzählt. „Der Schrei in der Nacht“? Und das wird wohl das Pfeifen einer Lokomotive bedeuten, und daran anschließend macht es sich sehr hübsch, wenn man ein wenig über die Lohnforderungen der Eisenbahnarbeiter schwätzt. In dieser Art: weil man erstens in der Regel nur Triviales zu bieten hat und zweitens der verhätschelte Leser für ernste und anstrengende Dinge nicht zu haben ist, verputzt man einen an sich gleichgültigen Aufsatz mit glitzernden Mätzchen und krönt ihn mit der Krone des Kolportageromans, mit einem wilden Titel.

Ralf Freitag: Vielleicht liegt hier eine Ursache für die momentane Krise des Boulevard-Journalismus. Viel Geschrei, nichts dahinter: Die Weisheiten des Volksmunds gelten auch für den Journalismus. Eine gute Story hat auch eine gute Überschrift verdient, eine schlechte wird durch den besten Geistesblitz über vier Spalten nicht gerettet.

Darunter leiden vor allem die Berichte aus den Gerichtsverhandlungen. „Ein trübes Sittenbild aus dem dunklen Berlin“. „Der geheimnisvolle Juwelendiebstahl“. „Der Mord im Pantinenkeller“, und der Unterschied zwischen einem Schundroman und einer parodistischen Operette wird nicht immer gewahrt. Der Brauch, Flaschen abgestandener Flüssigkeiten mit aufreizenden Etiketts zu bekleben, hat seine Gefahr, weil der Leser gern seine wirklichen Erlebnisse etikettiert. Es gibt schon eine Menge Leute, die nicht die nicht deutsch, sondern Zeitungsdeutsch sprechen und die, statt, einen komplizierten Seelenvorgang zu untersuchen, das Wort „Lebenswandel“ vorziehen.

Ralf Freitag: Hier liegt doch die Chance gut gemachter Zeitungen: Statt Stereotypen zu zeichnen und Vorurteile zu bedienen, wie es die privaten Fernsehanstalten praktizieren, hat guter Journalismus auch die Aufgabe, aus Etiketten die berühmten zwei Seiten einer Medaille darzustellen. Der Auflagen-Sturzflug der Boulevard-Postillen spricht doch Bände.

Die Aufmerksamkeit des bürgerlichen Zeitungslesers auf soziale und wirtschaftliche Kämpfe hinzulenken, ist fast nur noch möglich, wenn man mit einer Dosis ranziger Sentimentalität aufkocht. Ehrliche, sachliche Zahlen, trockenes Material wirken längst nicht mehr. Die Überschrift wirkt, die Überschrift, das Etikett, die Schablone, das Schema: mit ihnen amerikanisiert diese aufkommende Presse die Köpfe und die Geister.

Ralf Freitag: Info-Kästen, Kurz-Interviews, Zusat-Infos im Internet: Wir verfügen heute über eine ganze Reihe von Bausteinen, die wir einsetzen können, um eine Story nicht im Sentimentalen sterben zu lassen. Dass in Zeiten der Reizüberflutung Sentimentalität oder der bewusst eingesetzte Leser-Schock ihre Berechtigung haben, bezweifelt wohl heute niemand. Reine Gefühlsduselei aber kommt beim Zeitungsleser nicht mehr an. Gleiches gilt für den trockenen Wirtschaftsbericht. Wo wir diese beiden Extremformen in den Zeitungen finden, stimmt etwas mit der Redaktion und ihren Mitarbeitern nicht.

Die Tucholsky-Zitate wurden verfasst unter dem Pseudonym Ignaz Wrobel.

März, 01.02.1914, Nr.9, S.281.

Zum Tucholsky-Text

Zum Kommentar von Thomas Seidler, Leipziger Volkszeitung

Zum Kommentar von Andrea Bachstein, Süddeutsche Zeitung, München

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