von Volker Banholzer
Wer über Technik schreibt sollte sie nicht nur gut erklären, sondern auch bewerten und einordnen können. Dafür sind technisches Hintergrundwissen und vernetztes Denken geeignete Voraussetzungen. Um über technische Zusammenhänge verständlich schreiben zu können, ist Fleißarbeit und stetiges Training am Objekt nötig. Die kritische Selbstreflexion der eigenen Texte ist erlernbar. Dabei helfen festgelegte Qualitätsstandards. Die Kenntnis der journalistischen Darstellungsformen ist selbstverständlich die Grundlage.
von Michael R. Montanus
Gewaltige Energieüberschüsse verpuffen völlig ungenutzt. Das Speichern erneuerbarer Energien ist die spektakuläre technische Herausforderung des Jahrhunderts. Aber was hat die Energiewende mit Kerzen zu tun?
Es ist einer dieser Augenblicke, in denen Karl glaubt, etwas Schreckliches werde geschehen. Um ihn herum ist es still. Das Nachtlicht am Ende des Flurs seiner Münchner Wohnung flackert ihm strohgelb entgegen. Er streift ruhelos durch die Räume. Das Licht wirft bizarre Schatten an die Wand. Im Zimmer nebenan schläft Susanne. Karls Ängste zerren ihn jede Nacht aus dem Tiefschlaf. Jetzt steht er im Wohnzimmer. Tiefe Falten auf der Stirn, das graue Haar zersaust. Er hört ein sanftes Klopfen. Auf den runden Glastisch tropft seit Stunden das Wachs der brennenden Kerze. Die tellergroße Wachsform erinnert ihn an eine Landkarte. Vielleicht Europa?
Karl ist Energieberater, Umwelt- und Klimaexperte. Der 50jährige Münchner kennt die Gefahren des Klimawandels. Der ungehemmte Ausstoß von Kohlendioxid hat Europa fest im Griff. Klimakatastrophen sind die fatalen Folgen. Hagelstürme, Hitzewellen, Naturgewalten fordern europaweit Menschenleben. Auf allen Kontinenten unserer Erde erschüttert der Klimawandel das Ökosystem. Jahrmillionen alte Gletscherwelten tauen ab wie defekte Kühltruhen. Der Regenwald ist abgeholzt und die Ölvorräte der Erde sind in zirka 70 Jahren verfeuert. Karl hat Angst um die Zukunft der Erde.
Derweil inszenieren die Industriestaaten mit beruhigender Regelmäßigkeit medienwirksam ihre Klimakonferenzen. Einschneidende Maßnahmen zur weltweiten Reduzierung der Treibhausgase werden voller Optimismus auf den nächsten Weltklimagipfel vertagt. „Menschliches Versagen in vollendeter Perfektion“, nennt Karl das wütend. Wieder wandert der Blick des Kerzenmannes auf das seidig glänzende Wachs, das sich beharrlich an die Oberfläche des Tisches heftet. Vor dem inneren Auge des Klimaexperten entsteht ein gigantischer Wachsbrocken. Größer als der Münchner Olympiaberg. Doch was hat das Kerzenwachs mit der Energiewende zu tun?
Explodierende Gas- und Öl-Kosten sind knallharte Realität. Die flächendeckende Erzeugung der erneuerbaren Energien aus Sonne, Wind und Wasser gelingt nur spärlich. Die wirkungsvolle Speicherung der regenerativen Energien ist nicht geklärt.
Im Kerzenwachs ist Paraffin enthalten. Die physikalischen Eigenschaften des Stoffes ermöglichen die beachtliche Energiespeicherung von Wärme. Er ist wasserabweisend, geruchlos und ungiftig mit einer hohen Stoffdichte. Besser als Wasser mit seinen bekannten Eigenschaften. In den Speichern von Solaranlagen wird derzeit Wasser verwendet. Erhitzt fließt es vom Dach über fingerdicke Leitungen in den Solarspeicher. Aufgrund knapper Raumflächen sind die Wasserspeicher im Verhältnis zur Solaranlage häufig zu klein. Paraffin mit seiner höheren Speicherdichte kann dieses Minus ausgleichen. Im Phasenübergang von festem zu flüssigem Paraffin sind die Speicherergebnisse atemberaubend. Zur Energiespeicherung aus Erdwärme plus Sonnenenergie könnten gigantische Paraffinspeicher sogar im Erdboden versenkt werden.
Der Umwelt- und Verfahrenstechniker denkt an die nächsten Menschengenerationen. Manchmal kommt es ihm vor, als hörte er schon heute den wütenden Vorwurf: „Warum habt ihr nichts getan?“ Der Kerzenmann ist sich sicher: Voluminöse Energiespeicher mit Paraffin könnten ein tatkräftiger Schritt gegen die Erderwärmung sein.
Die Kerze ist zischend erloschen. Das Licht der Morgensonne durchdringt seine Augenlider und holt den Kerzenmann aus seiner Gedankenwelt zurück. Draußen poltern die Müllmänner mit den braunen Bio-Tonnen über den löchrigen Asphalt. Im Bad summt der Haarfön das morgendliche Liebeslied für Susanne.