aus: 9.1 Nachrichten-Faktoren vs. Story-Faktoren, Seiten 263-266
Die Menschen sind oft begeistert. Sowohl ganz normale Hörer, Leser und Zuschauer als auch Journalisten. Begeistert, wenn sie „Serial“ hören (zumindest die erste Staffel) oder die „Netflix“-Doku-Serie „Making a Murderer“ schauen. Will man aber verstehen und analysieren, was solche Produktionen auszeichnet, um die handwerklichen Techniken auf eigene Produkte zu übertragen, so regt sich oft Widerstand. Ja natürlich, die Geschichten hinter „Serial“ und „Making a Mur- derer“ sind besondere Geschichten. Und ja, hinter diesen Produktionen stehen auch entsprechende Ressourcen, die im normalen Arbeitsalltag – und vielleicht auch sonst – kaum oder gar nicht zur Verfügung stehen. Aber die Art und Weise, wie diese Geschichten erzählt werden, mit welchen handwerklichen Techniken sie erfahrbar gemacht werden – das kann man erst einmal verstehen. Und sich fragen, welche dieser Techniken sich auf die eigenen Geschichten übertragen lassen. Welche Techniken können helfen? Und wie? Dann zeigt sich schnell: Nicht nur lange Dokumentationen können von diesem Handwerk profitieren, sondern auch aktuelle Beiträge, Kollegengespräche und sogar Moderationen. Doch schon der Analyse-Schritt wird in vielen Redaktionen nicht vollzogen. Schnell taucht Widerstand auf: Muss jetzt jede Geschichte gleich erzählt werden? Müssen wir den Amerikanern alles nachmachen? Und: Mit all dieser Emotionalisierung und Inszenierung ist das doch ohnehin kein echter Journalismus mehr! Diesen Widerspruch habe ich ganz persönlich lange nicht aufgelöst bekommen. Was soll daran schlecht sein, zu verstehen, wie fesselnde Geschichten erzählt werden? Warum soll ich nicht erst einmal versuchen, zu verstehen, wie Produkte arbeiten, die mich faszinieren? Das heißt doch noch lange nicht, alles unreflektiert zu übernehmen. Es bleibt doch meine Entscheidung, welche Erzählprinzipien ich im eigenen Alltag ausprobieren möchte. Und manchmal kann man nach dem Ausprobieren ja auch merken, ob etwas funktioniert oder eben nicht.
Der Widerstand in vielen (deutschen) Redaktionen scheint häufig aus einer skurrilen Trennung zu kommen: das Hören und Sehen als normales Publikum (tolle Geschichte!) einerseits, und die Arbeit als Journalist (solche Geschichten sind ja kein Journalismus!) andererseits. Woher kommt das? Was genau erzeugt denn den Widerstand? Um diese Fragen zu beantworten, hilft ein Vergleich zwischen den klassischen Nachrichtenfaktoren und dem, was ich Story-Faktoren nenne:
Nachrichtenfaktoren
Ziel: Thema abbilden |
Storyfaktoren
Ziel: Erlebnis liefern |
Die Liste erhebt gar keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder die absolut richtige Reihenfolge nach Wichtigkeit der Faktoren. Doch schon diese grobe Übersicht zeigt drei Aspekte relativ deutlich:
Was dieser Vergleich noch einmal vor Augen führt: Narrationen sind eine eigene Darstellungsform. Sie mit den üblichen journalistischen Maßstäben zu beurteilen, muss zwangsweise zu Irritationen, vielleicht sogar zu Widerstand und dem Gefühl führen: Das ist doch kein Journalismus. Das Gefühl ist auch nicht ganz falsch. Dennoch sind die Narrationen, über die wir hier reden, ja dokumentarische Narrationen. Sie sind also Teil des Systems „Journalismus“. Sie müssen sich damit auch an den journalistischen Moral- und Ethik-Vorstellungen messen lassen. Sonst finden sie keinen Platz im System Journalismus. Werfen wir deshalb einen Blick auf die häufigsten Kritik-Punkte an Narrationen im Einzelnen.