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Der Erzählsatz

aus: 2.6 Der Erzählsatz: Vier Elemente für eine Geschichte, Seiten 33-37


Normalerweise läuft das so ab: Als Reporter legen wir ein Thema fest, arbeiten die verschiedenen Aspekte dazu ab (meistens mit der Hilfe von mehr oder weniger tauglichen Menschen, die wir gerne Experten oder Protagonisten nennen, wobei beides übrigens meistens nicht ganz korrekt oder zumindest übertrieben ist), suchen dann die besten O-Töne raus (was auch immer genau das meint) und beginnen dann, darum den Reporter-Text zu bauen. Das Resultat: Es fällt uns schwer, beim Schreiben den Fokus zu halten, wir gestalten lange Erklärpassagen (weil die Infos ja rein müssen und außerdem wichtig sind) und der ganze Prozess fühlt sich irgendwie zufällig und mühselig an. Doch das muss nicht sein.

Es gibt ein Mittel, das hilft, den Fokus jederzeit zu bewahren: den Erzählsatz. Er ist sozusagen eine Erweiterung der Logline, vielleicht etwas weniger zugespitzt, dabei aber eindeutig. Er hilft uns zu entscheiden, ob eine Geschichte wirklich als Geschichte erzählbar ist. Er gibt allen Beteiligten Orientierung während des gesamten Arbeitsprozesses. Ira Glass beschreibt diesen Erzählsatz für „This American Life“ in dem wundervollen Comic „Out on the wire“. Für ihn besteht er aus drei Elementen: „Somebody does something (A character in motion. Doing something.) because (A motivation for doing that thing.), but (A challenge to overcome.). Das möchte ich gerne etwas ergänzen und differenzieren, damit es noch besser dabei hilft, eine Vorstellung von der Geschichte zu entwickeln und einen Maßstab für die Erzählung zu gewinnen.

Der hier eingeführte Erzählsatz besteht aus vier Elementen. Drei davon sind ein Muss, das vierte ein sinnvolles Extra:

  1. Der Protagonist. Dabei sollte es sich um einen echten Protagonisten handeln. Nur weil irgendjemand zur Arbeit fährt, Brötchen holt oder ihm irgendetwas passiert, ist er noch kein Protagonist (vgl. hierzu auch Kapitel 4.1). Ein Protagonist ist dabei aktiv. Denn er verfolgt:
  2. Ein Ziel oder eine Absicht. Der Protagonist will irgendetwas. Damit ist auch der große Story-Bogen gespannt. Wenn jemand etwas will, dann ist klar, wovon die Geschichte handeln wird. Nämlich von dem Weg zu seinem Ziel (oder dem Versuch, es zu erreichen). Wichtig dabei ist: Je konkreter das Ziel ist, desto besser lässt sich der Storybogen Richtung Höhepunkt spannen. Das ist allerdings relativ langweilig, wenn nicht ein weiteres Element hinzukommt:
  3. Die Hindernisse. Unser Protagonist verfolgt eine Absicht, stößt dabei aber auf Hindernisse. Erst dadurch entstehen Konflikt und Spannung. Würde die Eiskunstläuferin Surya Bonaly von Sieg zu Sieg eilen und immer die besten Noten der Jury bekommen, wäre es eine reine Erfolgsgeschichte, die wir schnell als langweilig empfinden würden. Spannend wird sie erst, weil Bonaly auf Hindernisse stößt. Tiefe bekommt die Geschichte dann, wenn außerdem ein viertes Element deutlich wird:
  4. Die Motivation des Protagonisten. Warum tut jemand das, was er tut? Je mehr wir uns für eine Person interessieren, desto mehr wollen wir ihre Motive verstehen. Denn dann können wir uns ihr nah fühlen und noch besser mit ihr identifizieren. Oder umgekehrt: Wenn uns klar ist, warum jemand handelt wie er handelt, haben wir Verständnis dafür – selbst wenn wir anders handeln würden oder die Handlung nicht billigen. Nicht immer ist die Motivation des Protagonisten von Anfang an klar. Aber irgendwann sollte die Motivation, wenn sie recherchierbar ist, deutlich werden.

▶ Ein Erzählsatz kommt also in folgender Form daher: A (der Protagonist) will B (seine Absicht / sein Ziel), weil er C (die Motivation), stößt aber auf D (Hindernisse). Diese Hindernisse muss der Protagonist überwinden, oder es zumindest versuchen. Der Erzählsatz ist damit der Kompass, an dem sich die Geschichte ausrichtet.

Für die „Radiolab“-Geschichte „On the edge“ sieht der Erzählsatz also ungefähr so aus: Die Eiskunstläuferin Surya Bonaly (A) will die Beste der Welt und deswegen Olympiasiegerin werden (B so konkret wie möglich), doch sie hat immer wieder Experten und Jurys der Eiskunstlauf-Welt gegen sich (D). Die Geschichte zeigt, wie Surya Bonaly die Hindernisse nach und nach überwindet oder Rückschläge erleidet – bis es zum alles entscheidenden Wettbewerb kommt. Warum sie das tut und all die Belastungen und Rückschläge auf sich nimmt, kann verschiedene oder mehrere Gründe haben. Vielleicht ist sie besonders ehrgeizig, von ihren Eltern unter Druck gesetzt oder hat einfach Spaß am Wettbewerb (C). Je länger wir der Geschichte folgen, desto stärker drängt sich die Frage nach der Motivation auf: Wir wollen verstehen, warum zum Teufel Surya Bonaly all diese Entbehrungen und Belastungen auf sich nimmt. Und ob sie ihr Ziel erreichen wird. Und genau auf diese Fragen liefert die Geschichte Antworten.

Der Erzählsatz ist also die Antwort auf die Frage: Was ist die Geschichte? Fehlt der Erzählsatz, ist es eben (noch) keine Geschichte. Natürlich wirkt das insgesamt etwas formelhaft und reguliert. Nach dem Motto: Wir müssen immer und alles über Protagonisten erzählen. Ein Argument gegen den Erzählsatz könnte sein: Manche abstrakten oder komplexen Sachverhalte haben erstmal keine handelnden Personen (wie vielleicht die Debatte um die Abwägung zweier Grundrechte) oder verlangen nach einem Abstraktions-Niveau jenseits von konkreten Ereignissen oder Menschen (wie vielleicht die Frage nach verschiedenen Abstufungen der Unendlichkeit in Georg Cantors Mengenlehre). Dabei haben viele, auch noch so abstrakte Debatten meistens einen konkreten Realitätsbezug. Entweder, weil be- stimmte Ereignisse oder Personen die Debatte ausgelöst haben (lassen sich zum Beispiel zwei Fußball-Nationalspieler mit dem Präsidenten eines anderen Landes fotografieren, kann daraus eine Debatte um das Verhältnis von Spitzensport und Politik entstehen). Oder weil die Debatte im Ergebnis konkrete Auswirkungen auf die Realität hat. Der Erzählsatz ist also kein Plädoyer gegen abstrakte Argumentationen. Ganz im Gegenteil: Wer den Erzählsatz beherzigt, öffnet einen Raum, um genau solche Debatten zu führen und die Hörer dafür zu begeistern – dazu kommen wir gleich bei der „Leiter der Abstraktion“.

Was der Erzählsatz nicht will: Menschen als leere Hüllen und reine Platzhalter behandeln. Das passiert leider sehr häufig. Wir zeigen Menschen nur in ganz bestimmten Situationen und Rollen (gerne als Opfer, Aufmüpfige, Unterdrückte etc.). Dadurch wirken viele journalistische Produkte stereotyp und wenig glaub- würdig. Auch deswegen ist die Motivation der Protagonisten so wichtig. Sie bildet die Person in ihrer Komplexität ab, wodurch diese glaubwürdiger und realer wirkt. Das Problem: Das erlebbar zu machen, kostet Zeit.

Bleibt noch eine entscheidende Frage: Was mache ich, wenn ich den Erzählsatz nicht erfüllen kann? Weil ich mich zum Beispiel mit den aktuellen Entwicklungen rund um das Freihandelsabkommen TTIP oder den Folgen eines Hurrikans in Florida beschäftige? Wenn es nicht den einen Protagonisten gibt, der natürlicherweise durch die Geschichte führt? Ganz einfach: Dann wird der Erzähl-Satz entsprechend angepasst. Der entscheidende Unterschied: Aus dem Protagonisten wird das Thema. Und aus der Motivation wird die Begründung – was fast dasselbe ist. Dabei gibt es neben der eher klassischen Protagonisten-Narration zwei weitere Narrationsformen:

▶ Eine erklärende oder analysierende Narration beschreibt, wie etwas funktioniert. Eine argumentative Narration exploriert eine These.

Dazu jeweils ein Beispiel. Eine erklärende Narration könnte sich zum Beispiel um die Frage kümmern, wie Bananen aus Südamerika nach Europa kommen. Als Veranschaulichung, um den globalen Handel, CO2-Fußabdrücke und Warenströme zu erklären. Der Erzählsatz könnte dann zum Beispiel so aussehen: Bananen aus Kolumbien (A, die Bananen nehmen den Platz des Protagonisten ein) sollen im perfekten Reifegrad Europa erreichen (B, das Ziel), weil das den besten Preis erzielt (C, die Begründung), dafür müssen aber viele Prozesse perfekt ineinandergreifen (D, die Hindernisse, sie sind hier wie gehabt die einzelnen Etappen auf dem Weg zum Ziel). Mit diesem Erzählsatz bekommt man eine sehr gute Vorstellung davon, wie die Geschichte laufen wird. Von Etappe zu Etappe. An jeder Etappe gibt es neue Hindernisse, die überwunden werden müssen. Daraus generieren sich Handlung und Spannung. Angereichert durch die Story-Prinzipien (was steht zum Beispiel auf dem Spiel, wenn eine Ladung nicht im perfekten Reifegrad auf dem europäischen Markt ankommt?), entsteht eine spannende Geschichte in Form einer erklärenden Narration.

Für eine argumentative Narration kann ein Erzählsatz zum Beispiel so aussehen: Die SPD (A, sie nimmt den Platz des Protagonisten ein) wird bei der kommen- den Bundestags-Wahl abgestraft (B, das Ziel ist also als Behauptung bzw. These formuliert, die nun begründet werden muss), weil sie die falschen Berater hat, nicht zu sich selbst steht, schlecht geführt wird etc. (C, die Motivation wird also zu verschiedenen Argumenten, die in Summe die These begründen), erkennt das aber nicht oder weiß keinen Ausweg (D, die Hindernisse). In der argumentativen Narration gibt es also eine Verschiebung: es gibt nicht nur mehrere Hindernisse, sondern vor allem mehrere Argumente für die formulierte These (deswegen nenne ich es argumentative Narration).

Auch für erklärende und argumentative Narrationen gilt: Das Rückgrat der Ge- schichte bleiben die Szenen. Sie sorgen für Aktion und Spannung. Dann wird die These erfahrbar. Beide Formen stellen also hohe Anforderungen an den Reporter. Eine rein abstrakte, analytische Schilderung reicht für eine Narration nicht aus (vgl. zu den Struktur-Modellen dieser Narrationen Kapitel 3.8). Bei dem Bananen-Beispiel braucht es also auf jeder Etappe (bei der Ernte, beim Umschlag im Hafen, auf hoher See etc.) eine spannende Szene mit entsprechenden Figuren, die versuchen, die Hindernisse zu überwinden und so die Geschichte vorantreiben. Und im SPD-Beispiel sollte jedes Argument durch eine Szene belegt werden bzw. sich das Argument aus einer Szene ergeben.

Für alle Narrationen gilt also: Der Erzählsatz hilft dabei, mir und anderen zu verdeutlichen, was ich eigentlich erzählen will – er ist wie ein Kompass während des gesamten Arbeitsprozesses.