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Die 5 Serial-Missverständnisse

aus: 1.1 Was bisher geschah: „Serial“ und die Folgen, Seiten 1-3


Es sind nur ein paar Klavier-Töne, dann ertönt eine Stimme vom Band: „This is a Global-Tel link prepaid call from…“ Das ist der Beginn der ersten „Serial“-Staffel. Die amerikanische Podcast-Serie hat die Welt der Audio-Geschichten verändert. Uneinigkeit scheint nur darüber zu bestehen, wie genau Sarah Koenig und ihr Team das eigentlich gemacht haben: Wie hat „Serial“ die Spannung über zwölf Folgen aufrechterhalten? Warum haben viele Menschen der nächsten Folge regelrecht entgegengefiebert? Die Antworten darauf sind wichtig, weil sie eine Idee davon geben, welche Techniken hilfreich sein können, um eine komplexe Geschichte fesselnd und emotional angemessen zu erzählen. Irritierend ist, wie viele verschiedene Antworten und Thesen kursieren. Beginnen wir mit einer Hitliste von „Serial“-Missverständnissen.

Missverständnis 1: Diese Geschichte erzählt sich ja von selbst. Ähm, nein. Schon diese erschreckend allgemeine Aussage zeigt eher Ignoranz als Einblick. Geschichten erzählen sich nie von selbst (wie war das mit erschreckend allgemeinen Aussagen?!). Dafür braucht es immer noch so etwas wie einen Erzähler. Sollte man als Autor jemals diesen Satz als Feedback bekommen, kann man sich dennoch glücklich schätzen: Offenbar war das Hören ein kurzweiliges Vergnügen. Doch Leichtigkeit ist leider fast immer harte Arbeit.

Missverständnis 2: Der Protagonist Adnan Syed ist perfekt. Wieder nein. Der Protagonist der Serie ist nicht Adnan Syed. Das zeigt schon das Wort Protagonist – was man etwa mit Haupt- oder Erst-Handelnder aus dem Altgriechischen übersetzen kann. Adnan handelt eher nicht. Er sitzt im Gefängnis, kann da nicht weg und hat kaum noch Möglichkeiten, aktiv für die Veränderung seines Zustandes zu kämpfen. Was richtig ist: Für Adnan steht viel auf dem Spiel, außerdem ist er vielschichtig und eine komplexe Persönlichkeit – das ist sicher gut für die Geschichte. Aber er ist eben nicht der Protagonist. „Serial“ hat natürlich einen Protagonisten bzw. eine Protagonistin, dazu später mehr.

Missverständnis 3: Sarah Koenig ist einfach so sympathisch. Jein bzw. keine Ahnung. Dramaturgisch gesprochen ist dieser Satz nicht ganz präzise. Ob Sarah Koenig sympathisch ist oder nicht, wissen wir als Hörer*innen1 nicht. Was wir aber wissen und spüren: Sarah Koenig inszeniert sich als sympathische Erzählerin. Vielleicht ist das nah an ihrer echten Persönlichkeit (das wäre irgendwie schön!). Sicher ist es aber eine inszenatorische Entscheidung, humorvoll, reflektiert und nicht perfekt zu erscheinen. Denn das dient der Geschichte. Es macht sie als Erzählerin glaubwürdig und gibt ihr die Möglichkeit zur Entwicklung. Gleichzeitig wird an ihr deutlich, welche Art von Erzähler*in wir als Hörer mögen.

Missverständnis 4: Die Amerikaner erzählen einfach emotionaler als wir Deutschen. Siehe dazu auch die Anmerkung zu allgemeinen Aussagen aus Missverständnis 1. Was stimmt: Diese Geschichte ist sehr emotional – und teilweise auch emotional erzählt. Was auch stimmt: Objektivität ist in vielen deutschen Redaktionen ein hohes Gut. Oder anders ausgedrückt: Auch in langen Erzählungen erscheint der Journalist oder Reporter nicht so prominent und emotional. Wie sehr das kulturell bedingt ist, ist dabei gar nicht wichtig. Entscheidend ist: Die Erzählweise hat eine bestimmte Aufgabe in der Geschichte und ist in „Serial“ oft ganz bewusst eingesetzt. Damit ist es gut genutztes Erzähl-Handwerk, nicht mehr, nicht weniger.

Missverständnis 5: Die Geschichte ist so toll, weil sie einen echten Kriminalfall behandelt. Ist das so? Ist diese Geschichte in erster Linie eine true-crime-story? Oder eine investigative Recherche? Oder eine Beziehungs-Geschichte (zwischen Sarah und Adnan)? Oder alles gleichzeitig? Und ist das überhaupt wichtig (ja, es ist!)? Wäre es eine true-crime-story, müsste es im Kern darum gehen, dass Sarah Koenig den Mord an Hae Min Lee aufklären möchte. Das ist vielleicht etwas spitzfindig, aber das ist nicht Koenigs primäres Ziel. Koenig überprüft, ob Adnan wirklich der Täter ist. Wenn sie dabei den echten Täter findet, gut. Wenn nicht, dann ist das für die Geschichte nicht entscheidend. Das Problem: Versteht man „Serial“ als true-crime-story, dann besteht die Gefahr, sich ebenfalls auf einen Kriminalfall zu stürzen. Mit dem Ziel, eine ähnlich fesselnde Geschichte zu erzählen.

Alle fünf Missverständnisse sind bewusst etwas überspitzt formuliert, um eines zu verdeutlichen: Die saubere Analyse ist wichtig, um die zentralen Erzählprinzipien zu erkennen. Die Argumente und Thesen sind ja nicht komplett aus der Luft gegriffen, aber eben doch nicht auf den Punkt gebracht. Die große Gefahr und häufig eben auch Folge: Wir kopieren als Redakteure, Reporter oder Autoren die Faktoren, die wir erkennen – oder zu erkennen glauben. Das sind aber vielleicht nicht die Entscheidenden. Das Ergebnis ist dann häufig etwas unbefriedigend.