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Spannungskiller

aus: 5.2 Spannungs-Killer, Seiten 137-140


Manche Themen sind einfach nicht kaputt zu kriegen: Spätestens im Mai sollte man mal was über die Spargel-Ernte machen, Ende August was über die Sommerbilanz und im September sollten wir uns endlich mal darüber aufregen, dass schon wieder Domino-Steine und Spritzgebäck in den Regalen der Lebensmittelläden auftauchen (wobei „auftauchen“ ja schon eine falsche Wahrnehmung ist, sowohl Domino-Steine als auch Spritzgebäck gibt es das ganze Jahr – wahrscheinlich werden die nur prominenter platziert). Lange Rede, kurzer Sinn: Es gibt gewisse Themen und Ereignisse, die immer wiederkehren. Und viele Redaktionen sind da- von mittlerweile gelangweilt, was sie aber nicht davon abhält, das Thema trotzdem noch einmal umzusetzen (diesmal aber mit einem total kreativen Dreh, nämlich einem Bericht über einen Menschen, der sich total über die Domino-Steine freut…). In vollem Bewusstsein, dass auch die Hörer diese Themen eigentlich nicht mehr hören wollen. Diese Beispiele zeigen im Kleinen einen der drei Spannungs-Killer: nämlich Bekanntes zu erzählen – und zwar immer wieder.

Wenn beim Hörer das „Kenn-ich-schon“-Gefühl auftaucht, dann wird er früher oder später weg sein. Wahrscheinlich früher. Erst recht, wenn er sieht, dass der Fortschrittsbalken im Player anzeigt, dass noch 15, 30 oder 45 Minuten zu hören sind. Deswegen sollte keine Erzählung mit zu viel Bekanntem anfangen. Hörer fällen ihre Entscheidung schnell und kommen eher nicht zurück – das Alternativ-Angebot ist einfach zu groß. Hörer wollen reingezogen werden und gleichzeitig genug Orientierung bekommen, um zu verstehen, worum es geht. Ein schmaler Grat. Viele Podcast-Produktionen arbeiten deshalb am Ende des dynamischen Openers mit einer „value proposition“, also einem Nutzenversprechen (nach dem Motto: „Wie Integration funktionieren kann, das erfahrt ihr jetzt!“). Auch hier gilt: Je konkreter dieses Versprechen, desto besser. Bitte nicht mit einem thematischen Teaser verwechseln, den wir aus dem linearen Radio kennen, häufig vom Beginn der Sendung (nach dem Motto: „In der nächsten Stunde schauen wir nach Berlin, Paris und Herne.“).

Anders herum darf aber auch keine Komplett-Verwirrung beim Hörer eintreten.

Irritation ist natürlich erlaubt, aber wird das „Häh“-Gefühl zu groß, sind die meisten Hörer auch weg. Als Maßstab für eine spannende Geschichte gilt: Mitdenken ja, überfordern nein. Das bedeutet auch: Ich muss als Autor den schmalen Grat treffen zwischen neuen, aufregenden Inhalten einerseits, und Orientierung andererseits. Dafür muss ich mein Zielpublikum so gut wie möglich kennen. Denn sonst kann ich kaum einschätzen, was Hörer wissen und was nicht. Erkläre ich Bekanntes, wirkt es schnell von oben herab. Lasse ich zu viel unerklärt, ist die Verwirrung schnell zu groß. Um auch diesen schmalen Grat zwischen Mitdenken und Verwirren immer wieder sicher zu treffen, empfiehlt zum Beispiel Jad Abumrad von „Radiolab“ die Technik des Signposting: „My own philosopy on storytelling is that people don’t want to be told how to feel but they do want to be told what to pay attention to.“ Wichtig ist dabei: der Hörer wird nicht von oben herab belehrt, es wird ihm nur gesagt, dass nun etwas sehr Wichtiges kommt. Das kann direkt oder indirekt formuliert eingeleitet werden. Eher direkt wäre eine Formulierung wie „Und dann haben wir den entscheidenden Fakt gefunden, nämlich…“ Indirekt wäre eher eine Formulierung wie: „Und das hat mich so verwirrt, dass ich darüber noch einmal nachdenken musste. Und dann…“ Welche Variante man wählt (oder irgendwas dazwischen) hängt sicherlich von der jeweiligen Geschichte ab. Außerdem ist es ein Mittel, das nicht zu häufig zum Einsatz kommen darf – weil es sonst an Kraft verliert. Aber gerade in Geschichten von „Radiolab“, die häufig sehr schnell und mit vielen Beteiligten erzählt sind, ist ab und zu etwas explizite Orientierung keine schlechte Idee. „Those phrases are like little arrows that tell the listeners: Pay attention to what’s about to happen, because it’s important.“

In Sachen Zielpublikum scheint es übrigens ein großes Missverständnis zu geben.

In den vergangenen Jahren haben sich viele Hörfunk-Programme Ziel-Figuren oder Ziel-Hörer erschaffen. Im Prinzip eine gute Idee: Man will ja wissen, für wen man sendet. Im Ergebnis hat das aber häufig dazu geführt, ganze Themenbereiche auszuschließen, die angeblich für diese Zielhörer nicht interessant sind. Das Resultat: Gefühlt wird das Themenspektrum in vielen Programmen – sagen wir mal – übersichtlicher. Weltanschauungen werden eher gefestigt als überprüft oder erweitert. So ist das eigentlich nicht gedacht. Das Instrument der Zielhörer soll dabei helfen, Schnittstellen zu gewissen Themen zu identifizieren und so Vorwissen abzuschätzen und den o. g. schmalen Grat zu treffen (fairerweise sei gesagt, dass es auch Sender gibt, die das Instrument genau so nutzen). Gerade die Prinzipien des Storytellings zeigen außerdem: Mit dem richtigen Handwerk besteht zumindest die Chance, jeden für jedes Thema zu interessieren – ich muss allerdings auf wichtige Aspekte wie Erzählsatz, Spannungsbogen, Empathie, Protagonisten etc. achten. Trotzdem gibt es natürlich immer Hörer, die bestimmte Themen für sich zeitweise oder prinzipiell ausschließen. Wer gerade Nachwuchs bekommen hat, wird sich verständlicherweise mit einer true-crime-Geschichte über einen Kindsmörder eher schwertun.

Und dann gibt es da noch den dritten Spannungs-Killer, den vor allem Journalisten immer wieder auslösen: das „Alles-klar“-Gefühl. Dieses Gefühl entsteht, wenn alle Ergebnisse vorweggenommen werden. Das ist ganz tief eingebrannt in die Journalisten-DNA. Nachrichten sind so aufgebaut, Berichte, selbst Hinter- grund-Analysen: Das Wichtigste zuerst, dann die Details, das Ganze soll von hinten kürzbar sein etc. Wenn ich als Hörer aber bereits am Anfang eines Berichts erfahre, wie die Wahl ausgegangen ist, warum soll ich dann noch weiter zuhören? Vielleicht interessieren mich noch ein paar Details. Aber schnell wird klar: Diese Art der Inhalts-Vermittlung trägt nur für eine bestimmte Länge bzw. Kürze. Das ist auch ein Grund, warum sich viele Journalisten sehr schwertun, längere Geschichten zu erzählen, wenn sie lange für aktuelle Programme gearbeitet haben. In den aktuellen Programmen folgt die Nachrichten-, Beitrags- oder Gesprächs-Logik häufig dem folgenden Aufbau: aktuelles Ereignis, vertiefende Details, Reaktionen, mögliche Konsequenzen, Ausblick. Mit diesem Meta-Schema können fast alle Längen zwischen 20 Sekunden und – sagen wir mal – vier Minuten ohne Probleme gefüllt werden. Wenn ich als Reporter dann aber die Form wechsele hin zu längeren Formaten wie vielleicht sieben oder zehn Minuten oder noch länger, dann funktioniert der Aufbau nicht mehr. Was dann häufig passiert: Viele Autoren füllen die Themen-Blöcke „Details“, „Reaktionen“ und „mögliche Konsequenzen“ mit mehr Informationen. Die Blöcke werden also schlichtweg verlängert (inhaltlich sogar vertieft), es ändert sich aber am Grundaufbau nichts. So kann keine Spannung entstehen. Hinzu kommt das Problem, dass der Journalist mehr Platz häufig nutzt, um sein Wissen unter Beweis zu stellen. Er beantwortet Fragen, die er in dem jeweiligen Kontext für wichtig erachtet (Wie kam es zu dem Konflikt? Wer war nicht beteiligt? Warum sind bisherige Lösungsversuche gescheitert? Wie kann es nun weitergehen? etc.). Das sind aber häufig gar keine Fragen, die im Hörer schon entstanden sind. Damit wirken längere Beiträge schnell langweilig und von oben herab – Hörer fühlen sich belehrt.

Setzt das „Alles-klar“-Gefühl ein, sind die Hörer genauso schnell weg wie beim „Kenn-ich-schon“- und beim „Häh“-Gefühl. Alle drei Gefühle sollten wir als Autoren in realen Erzählungen nach Möglichkeit vermeiden – und das geht mit den folgenden Techniken des dynamischen Erzählens.