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Kapitel 10: Unterschiedliche Textzugänge ermöglichen – oder: Wie das

Tetralemma verhindert, dass Leser sich bevormundet

 


Der indische Philosoph Nagarjuna, Vordenker des Mahayana-Buddhismus, erkannte, dass eine Aussage vier mögliche Wahrheitsmomente beinhalten könnte:

  1. Wahr (als absolute Größe)
  2. Falsch (als absolute Größe)
  3. Wahr UND falsch/Sowohl wahr als auch falsch /Erst wahr, dann aber falsch etc.
  4. Weder wahr noch falsch (Im Sinne von „irrelevant in einem Kontext“ oder „unzulässig als Aussage an sich“ oder „Der Kontext erfordert eine ganz andere Sichtweise“ oder „Der bisher gegebene Kontext spielt keine tatsächliche Rolle“ etc.)

Diese vier möglichen Momente treffen natürlich auch zu, wenn es nicht um die „Wahrheit“ geht. Jede andere Erörterung – beispielsweise das Ringen um „Meinung A“ und „Meinung B“ – kann denselben Prozessen folgen. Inhaltlich neutraler und deshalb umfassend einsetzbar ist daher die Bezeichnung der vier Positionen wie folgt:

  1. Das Eine (A)
  2. Das Andere (B)
  3. Beides (im Sinne von A UND B/A neben B /A als Teil von B/Mischung aus A und B/in Zeitfolge erst A dann B etc.)
  4. Keines von Beidem (im Sinne von Unverhältnismäßigkeit zwischen den Positionen/Irrelevanz im Kontext; etc.)

Nagarjuna fügte dem Tetralemma noch eine vierfache Verneinung hinzu, die als Kritik allen anderen Positionen gegenübergesetzt ist. Matthias Varga von Kibéd hat diese „Fünfte“ weiterentwickelt und neu definiert. Sie ist nun eine „Nichtposition“. Das heißt, sie nimmt gegenüber allen anderen Positionen eine tiefe Skepsis ein. Sie misstraut den Erkenntnissen aus den vier genannten Positionen und ist sogar so „skeptisch“, dass sie sich selbst in Frage stellt. Insofern ist diese moderne Form der „Fünften“ das intellektuell Unverständliche, der Zufall oder was auch sonst noch dazu beitragen kann, das Dilemma zu lösen. Deshalb trägt sie die etwas sperrige Bezeichnung:

  1. All dies nicht – und selbst DAS nicht.

An dieser Stelle erkennen sich vielleicht die einen oder anderen Leser dieses Buches wieder. „Was dürfen wir denn dann noch schreiben, wenn wir allem misstrauen? Muss ich mir selbst misstrauen in dem, was ich tue? Wo stehe ich eigentlich in Bezug auf das Thema, das ich bearbeite? Und was geschieht, wenn ich allen Positionen misstraue und dann sogar meinem eigenen Denken?